September 17, 2024

Schafabtrieb auf Island – Cowboy-Stimmung am Rande des Polarkreises


 

Im Schafspferch Copyright: C.B.

Wilde Schreie, wiehernde Pferde, blökende Schafe – nicht der „wilde Westen“, sondern Schafabtrieb auf Island. Denn im Herbst müssen die Tiere von Cowboys – bzw. „Sheepboys“ und „Sheepgirls“- aus den Bergen getrieben werden.

Wenn im Frühjahr die Lämmer geboren werden, ist das die anstrengendste Zeit für die Schaffarmer auf Island. Denn über mehrere Wochen muss stündlich im Stall nach dem Rechten gesehen und Geburtshilfe geleistet werden. Nach der Geburt bekommen die Lämmer zunächst eine Ohrmarkierung aus Plastik sowie eine Schnittkombination ins Ohr. Damit können die Lämmer ihren Besitzern zugeordnet werden.

Wenn der Schnee dann in den Bergen schmilzt, werden die Mutterschafe mit ihren Lämmern auf die gemeinschaftlich genutzten Hochweiden im Gemeindebesitz gebracht. Dort dürfen die Tiere den ganzen Sommer über in Freiheit weiden. Es ist geradezu erstaunlich, wie klettergewandt die Tiere sind und welch steile Felswände sie überwinden können. Meist sieht man drei Tiere zusammen: Ein Mutterschaf mit zwei Lämmern. Die Widder verbringen den Sommer meist in der Nähe des Hofes.

Wenn es kälter wird, müssen die Schafe wieder aus den Bergen geholt werden. Dies ist meist im September der Fall. Zwar gibt es eine spezielle Rasse der Leitschafe, die bei Kälte die anderen Schafe Richtung Tal führen, die Zahl der Leitschafe ist aber nicht ausreichend und die meisten Schafe würden einfach bei kaltem Wetter in den Bergen erfrieren. Da die Schafe sich den Sommer hindurch über weite Berggebiete verteilt haben, wo es keine Straßen gibt, werden die Schafe im Herbst traditionell zu Pferde und zu Fuß eingesammelt. Jeder Schafsbauer ist verpflichtet, eine bestimmte Anzahl von Leuten auf Schafssuche zu schicken. Je nach Größe des Suchgebietes dauert so ein Schafsabtrieb oder Göngur von zwei Tagen bis zu einer Woche. Das Gelände ist teilweise sehr schwierig, von Bülten (Buckelwiesen), Flüssen und Schluchten durchzogen. Kommt noch schlechtes Wetter mit Sturm, Regen, Nebel oder Schneefall hinzu, kann der Schafabtrieb extrem anstrengend oder sogar gefährlich werden. Pro Tag sind 12 Stunden ohne Pause im Sattel keine Seltenheit.

Am Nachmittag des ersten Tages reiten meist alle Schafssucher zu einer einfachen Berghütte, in der übernachtet wird. Meist hat man zusätzlich zum Reitpferd ein oder zwei Handpferde dabei, um mehrmals am Tag die Pferde wechseln zu können, damit sie nicht zu sehr ermüden. Am nächsten Morgen geht es in aller Frühe los, meist noch vor der Morgendämmerung. Ab jetzt hat der sogenannte Fjallkongur oder Bergkönig das Sagen. Er sorgt dafür, dass der Abtrieb geregelt von statten geht. Alle Reiter (in den schwierigen Regionen auch Fußgänger) stellen sich in einer langen Linie auf und beginnen damit, das Gebiet langsam bergab nach Schafen zu durchkämmen. Da die Schafe aber nicht unbedingt Interesse daran zeigen, sich Richtung Tal zu begeben, muss mit lauten Schreien und Pfiffen nachgeholfen werden. So reitet man im Zickzack den ganzen Tag langsam Richtung Tal und treibt die immer größer werdende Schafherde vor sich her. Hat man ein erfahrenes Schafssucher-Pferd, erkennt dieses oft ganz von alleine, was es zu tun hat. Ab und zu büchsen besonders widerspenstige Schafe aus, so dass man die Schafe im Galopp über die Buckelwiesen zurücktreiben muss. Da kommt echte Cowboy-Stimmung auf. Kranke und verletzte Schafe müssen zu Fuß oder zu Pferde bis zu einer Piste gebracht werden, wo ein Traktor mit Anhänger die Schafe mitnimmt.

Hunde werden beim Schafabtrieb nur selten eingesetzt. Zwar gibt es die eigene Rasse des isländischen Schäferhundes, aber kaum jemand macht sich die Arbeit, die Hunde entsprechend auszubilden. Die Rasse war sogar Mitte des 20. Jahrhunderts vom Aussterben bedroht.

Abends wird wieder in einer Berghütte übernachtet. Wenn man Glück hat, sind sogar Köchinnen dabei und servieren ein warmes Essen. Nach dem Essen fällt man schnell aufs Matratzenlager, um am nächsten Morgen wieder ganz früh loszureiten – und zwar bergan! Da es im Bereich der Berghütten keine Zäune gibt und die eingesammelten Schafe sich über eine Breite von mehreren Kilometern verteilen, laufen einige Schafe über Nacht wieder den Berg hinauf. Also heißt es wieder soweit den Berg hinaufreiten, dass man sich hinter den Schafen befindet und dann die Schafe weiter den Berg hinuntertreiben kann. Inzwischen haben meist auch die Pferde den Spaß an der Sache verloren, so dass man sich mit den Pferden auch noch herumplagen darf.

Wenn alles gut läuft, hat man nach einigen Tagen Arbeit ein langes weißes Band von Schafen vor sich, das sich Richtung Tal ergießt. Im Tal angekommen, kommen dann auch die Bäuerinnen mit Pfannkuchen heraus und die Kinder dürfen den Schafssuchern entgegen reiten und beim Treiben der Schafe mithelfen. Natürlich wird unter den Erwachsenen auch die Schnapsflasche eifrig herum gereicht. Und dann werden endlich alle Schafe auf eine große eingezäunte Weide getrieben und die Schafssucher können nach Hause reiten, duschen und schlafen.

Am nächsten Tag beginnt das Sortieren der Schafe im Schafspferch Réttir. Hierbei entsteht eine regelrechte Volksfeststimmung. Menschen, die in die Stadt gezogen sind, kommen zurück und ganze Schulklassen kommen vorbei. Vom Kleinkind bis zu den Urgroßeltern kommen alle zusammen und helfen oder schauen einfach zu.

Der Schafspferch ist meist ein Rondell, von dem sternförmig einzelne Gatter abgehen, die den einzelnen Schafsbesitzern zugeordnet sind. Nun werden die Schafe in einzelnen Gruppen mit viel Lärm von der Weide in den Pferch getrieben. Dann springt man zwischen die dicht gedrängten Schafe in der Mitte des Rondells, versucht sie anhand der Ohrmarkierungen zu identifizieren und zum entsprechenden Ausgang zu bringen.

Soweit die Theorie. In der Realität sieht es oft so aus, dass ein Schaf den Schafssortierer durch den Pferch zieht oder gleich mehrere Kinder rodeomäßig durch den Schlamm schleift. Für die Kinder ein Riesenspaß!

Oder die Schafe hüpfen auf ihren dünnen Beinen aus dem Stand heraus fast 2 Meter in die Luft – da lässt man meist los. Sogar die Mauern des Pferches überwinden manche Schafe im Sprung. Immer wieder wird der Pferch mit neuen Schafen gefüllt, so dass es meist bis zum Nachmittag dauert, bis alle Schafe sortiert sind. Und das, obwohl es heute „nur  noch“ etwa 460.000 Schafe auf Island gibt. Früher waren es viel mehr Schafe.

Im Réttir Copyright: C.B.

Die Schafe werden dann entweder traditionell mit Pferden nach Hause getrieben oder mit dem Traktor und Anhänger oder per LKW zum Hof gebracht. Dort verbringen die Schafe einige Zeit auf der Weide. Dann wird aussortiert, welche Lämmer für die Nachzucht behalten werden und welche ins Schlachthaus kommen. Sogar Feinkostketten aus den USA kaufen isländisches Lammfleisch als jahreszeitlich begrenzten Artikel, da das isländische Lammfleisch als ökologisch produzierte Delikatesse gilt. Das isländische Lammfleisch gilt als besonders schmackhaft, da die Lämmer sich von den verschiedenen Bergkräutern ernähren. Aber auch die Wollpreise sind in den letzten Jahren durch die gestiegene Nachfrage der Touristen nach isländischen Wollpullovern wieder gestiegen. Daher wird mittlerweile auch die Schafswolle wieder verstärkt genutzt.

Den Winter verbringen die Tiere dann im Stall. Etwa im November sind die Schafe paarungsbereit. Man züchtet genau nach Zuchtbuch mit dem Ziel, zwei kräftige Lämmer pro Mutterschaf zu erhalten. Dabei kommt meist ein Widder auf 60 Schafe.

Beim Schwimmbadbesuch in den Tagen nach dem Schafsabtrieb kann man leicht erkennen, wer tatkräftig Schafe sortiert hat – die Beine der Helfer sind überall mit blauen Flecken durch die Schafshörner markiert.

Im Oktober werden übrigens die Pferde auf die gleiche Weise wie die Schafe aus den Bergen geholt – das Tempo ist allerdings wesentlich höher und die Pferde kennen oft auch schon den Heimweg.

Sowohl der Schafabtrieb als auch der Pferdeabtrieb sind bei Touristen sehr beliebt. Meist wird am Pferch auf die Herde gewartet und beim Sortieren zugeschaut oder sogar mit angepackt. Beliebt sind auch Reittouren zu Pferde, bei denen man die Schafs- oder Pferdetreiber begleitet und unterstützt. Verschiedene Veranstalter von Reittouren bieten solche organisierten Touren an.

Text: C.B.